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Ich will hier folgende Theorie erörtern: Eltern, auch wenn sie sich noch so sehr bemühen, ihrem Neugeborenen eine schöne Kindheit zu bescheren, müssen sich auf das Verhaltensmuster des neugeborenen Menschen einstellen. Denn sie haben keinen Menschen vor sich, der völlig sinn- und informationsentleert ist und erst noch mit Informationen gefüttert werden muss, um später entsprechend leben, handeln und reagieren zu können. Beide Seiten, also Kinder wie Eltern, müssen sich aufeinander einstellen. Denn bei der Geburt hat der Mensch nicht die Form einer Vollkommenheit, mit der er sich problemlos auf neue Situationen einstellen kann. Er bekommt darüber hinaus im weiteren Leben - und das besonders in der Kindheit - Verhaltensmuster der Eltern bzw. seines Umfeldes vermittelt, die sein weiteres Leben sehr stark beeinflussen werden. Genauso wie die Eltern, die vor und nach ihrer eigenen Geburt Informationen in ihrer Erbmasse gespeichert hatten und in ihrem Heranwachsen erhalten werden. Es handelt sich hier also um einen Kreislauf von Informationen und Verhaltensweisen, die einerseits schon da waren und andererseits noch dazukommen. Ist hierdurch nicht schon die Gefahr von Missverständnissen vorprogrammiert? 

 

Es gibt Eltern, die aus ihrer Sicht - und das aus Berechtigung - behaupten, sie hätten alles für ihr Kind getan. Dieses Kind hätte von ihnen alles Erdenkliche an Liebe und Aufmerksamkeit erhalten. Das Kind wiederum empfand die entgegengebrachte Liebe und Aufmerksamkeit als mangelhaft und nicht ausreichend, um sich entsprechend geliebt und beachtet zu fühlen. Diese Aussage ist zwar nicht speziell auf den Einzelfall gemünzt richtig, zeigt aber, dass der Mensch als Elternteil nur das weitergibt, was er selbst erfahren hat. Wurden die Eltern falsch oder nicht ausreichend geprägt, werden diese Defizite an die Nachfahren weitergegeben. Selbst ein Mensch, der, nennen wir es einmal, eine optimale Entwicklung hatte, ist dem Missverstehen seines eigenen Kindes ausgesetzt. Manch ein Mensch wurde schon als neugeborenes Kind als schwierig beschrieben. Die Eltern müssen darauf in ihrer ureigenen Art reagieren. Dadurch ergibt sich ein unendlicher Kreislauf von Missverständnissen.

 

Sogenanntes Fehlverhalten liegt größtenteils in der Kindheit begraben. Begraben ist hier nicht zufällig als Begriff verwendet, sondern bewusst. Hier wird im weiteren Leben ein Verhalten zutage treten, das schon in das Unterbewusstsein abgeglitten und schwer zu durchschauen ist. Weder vom Träger des sogenannten Fehlverhaltens noch von seinem Gegenüber, der damit konfrontiert ist. 

 

Ein Beispiel:

Ein Mensch reagiert in bestimmten Situationen aggressiv und unbeherrscht. Dieser Mensch weiß gar nicht, warum er so reagiert, und handelt vielleicht nur so, weil er seine Erziehung als genauso aggressiv und unbeherrscht erlebt hat. Ihm ist zwar bewusst, dass er so aufgewachsen ist, und er kann die Art und Weise der Erziehung seiner Eltern nicht billigen, und verabscheut diese auch. Aber in bestimmten Situationen reagiert das nun erwachsene Kind dennoch genauso. Die Eltern wiederum sahen sich gezwungen, so zu reagieren, weil sie befürchteten, dass dem Kind so seine Grenzen aufgezeigt werden mussten, und empfanden ihre Reaktion gar nicht so aggressiv und unbeherrscht. Hatten sie, also die Eltern, es vielleicht ebenso von ihren Eltern erfahren? Der Mensch handelt auch aus seinen Erfahrungen heraus, er besitzt zwar die Möglichkeit Erfahrungen zu reflektieren und gegebenenfalls zu korrigieren, aber in wie weit wird dies möglich sein? Wenn der Mensch etwas augenscheinlich Schlechtes verbessert, muss dabei nicht unbedingt etwas Gutes herauskommen. 

 

Also wer ist hier nun Opfer und wer Täter? Steht man hier nicht einer sich ständig wechselnden Rolle gegenüber? Wird hier nicht das Opfer zum Täter?

 

Als Betroffener, egal in welcher Rolle man sich befindet, stellt sich hier schnell die Frage, wer dafür die Schuld trägt. Ähnlich der Frage: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Der Mensch ist anscheinend so konstruiert, dass er nach dem Schuldigen sucht. Dies geschieht selbst beim Entschuldigen. Ein Entschuldigen ist immer ein Schuldspruch, entweder man entschuldigt sich oder entschuldigt das Verhalten des Anderen. Und zwangsläufig gelangt der Mensch dann ganz schnell zu der Frage nach dem Recht. Und zwar in der Form, dass geurteilt wird. Der Mensch, der etwas verschuldet hat, wird verurteilt. Es ist sicherlich unstrittig, dass wir Menschen Regeln und Gesetze benötigen - in welchem Umfang jedoch ist sicherlich diskutierenswert. Mir geht es hier aber mehr um unsere eigene Urteilskraft. Erst wenn es dem Menschen gelingt, sich dem Kreislauf der im oben genannten Beispiel beschriebenen Ursache und Wirkung gewahr zu werden, wird man Verständnis für den Anderen und sich selbst aufbringen. Und begreift dann - losgelöst von Schuld und Recht, dass aus einem Opfer ein Täter werden kann und umgekehrt. Deshalb handelt es sich hier nicht um die Frage der Schuld, der Entschuldigung oder der des Rechts, sondern um das Verstehen der Polarität beider Figuren, die des Opfers und die des Täters. Hier ist dann ein sich gegenseitig Verzeihen gefragt, um sich den wechselnden Rollen beider Zustände anzunähern. Nur so ist ein therapeutischer bzw. selbsterkennender Effekt erreichbar.

In der Eigenart des Menschen liegt auch die Quantifizierung und Qualifizierung von Lebenskrisen, Lebenssituationen und Ereignissen in erwähnenswert und weniger erwähnenswert. Verkennt der Mensch hierbei, dass jeder einzelne Mensch seine momentane Situation als die für sich wichtigere Situation empfindet. Ähnlich der Situation eines Arbeiters und eines Büroangestellten am Ende ihres Arbeitstages, die sich darüber streiten können, wer von ihnen mehr Stress ausgesetzt war. Beide empfinden ihren Stress als schlimm und genauso ist es auch. 

 

Der Mensch muss sich dieses Missverständnis vor Augen führen, um dann seinen Eltern, seinem Partner, seiner Umwelt zu verzeihen und sich verzeihen zu können. Erst dann ist er bei sich angekommen.

 

„Den Menschen, den ich nie verletzt habe, den habe ich nie geliebt.“

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